Erinnerungen an einen Nutzgarten

Die Familie in Mühlheim hatte schon immer den sogenannten „Acker“, und den gibt es heute noch. Dieser Acker ist kein zu bestellendes großes Feld, wie Bauern es haben, sondern es ist einfach ein Nutzgarten, ein paar Straßen vom Haus und dem darum befindlichen Blumengarten entfernt (eine Art großer Schrebergarten also, aber es fehlen die obligatorische Hütte und die Gartenstühle darin, denn er ist zum Säen und Ernten, nicht zum Wochenendaufenthalt bestimmt).

Auch die Kinder hatten von klein auf eine Verbindung zu diesem Garten. Zunächst einmal mußten sie essen, was darin geerntet wurde. Und das war, in den Augen der Kinder, schlechter als das, was es zu kaufen gab: Die Kirschen, sahen sie auch noch so schön aus, hatten Würmer, die Äpfel waren teils unförmig und hatten Druck- oder ebenfalls wurmige Stellen, in den Salatköpfen verbargen sich Schnecken ... wie ekelig! Daß das Gemüse und Obst, das es zu kaufen gab, dafür mit Chemikalien behandelt war, interessierte sie nicht, vermutlich wußten sie es nicht einmal, der Begriff des biologischen Landbaus existierte noch nicht. Die Kinderlieblingsäpfel waren Granny Smith in lilafarbenen Styroporschalen, je geschmackloser, desto besser.

Maier, Andreas und Büchner, Christine (2006). Bullau.
Versuch über Natur. Frankfurt/M.: Heinrich & Hahn (S. 79 f.)

Erste Erinnerung an letzte Dinge

(....) Sommer 1984. Es ist meine erste Erinnerung, weiß ich, glaube ich, behaupte ich. Ich könnte Tante Kerstin anrufen. Sie lebt noch. Wie meine Mutter und meine beiden Väter. Der, der nicht zeugte, und der, der mir später in jener Nacht die Beine mit Eis kühlen und sie mit Mullbinden umwickeln sollte.
Ich spiele auf dem Friedhof zwischen den überwucherten Hügeln. Ich verstecke mich hinter den Blöcken und Stelen, ich hocke mich zwischen Pflanzen mit winzigen weiß und blau leuchtenden Blüten. Eine alte, vom gebückten Gehen klein gewordene Frau wirft welke Blumen und trockene Kränze auf den Kompost. Sie hält eine Blechgießkanne unter den rostigen Wasserhahn und verschwindet hinter den Buchsbaumhecken.
Ich ducke mich, fahre mit den Fingern über den glatten Stein, fühle die rauen Vertiefungen der gemeißelten Buchstaben und warte auf das Unwahrscheinliche. Ich warte darauf, entdeckt zu werden. Ich wünsche es mir. Ich fürchte mich davor.
Meine gesamte Kindheit wohnten wir auf dem Dorf, in bäuerlich geprägten Ortschaften, die ihre glanzvollere Vergangenheit gut verbargen. Auch damals wohnten wir in einem Dorf, nur ein paar Schritte entfernt von der einzigen Bushaltestelle des Ortes, im oberen Geschoss des alten Küsterhauses direkt neben der turmlosen Kirche mit dem hohen Feldsteinchor. Unser Hof grenzte unmittelbar an das Gräberfeld. Nicht mal ein Zaun trennte die beiden Komposthaufen. In meiner Erinnerung war ich fast immer allein. Allein auf dem Friedhof, allein in dem von hohen, roten Mauern umgebenen Obstgarten, allein auf dem Steinhaufen, von dem ich, wie meine Mutter meint, an jenem Tag immer wieder gesprungen sein soll.
Doch niemand kam, das Wunder blieb, wie immer, aus. Stattdessen pflückte ich ein paar Blumen von den kleinen Beeten, rupfte Stiefmütterchen aus dem Boden und zog einzelne Tulpen aus den spitzen, in der Erde steckenden Kunststoff-Vasen.
Ich ahnte etwas, aber ich wusste nichts. Jedenfalls nicht, dass die Blumen Abwesenden gehörten, Toten, die in gezimmerten Kästen unter der Erde verwesten. Als ich den Strauß nach Hause brachte, schimpfte meine Mutter und erklärte mir nichts.
Den Tod kannte ich noch nicht. Dass Menschen sterben, dass ich selbst eines Tages sterben würde, lag außerhalb meiner Vorstellungskraft. Als mein Cousin mich einige Zeit später in dieses Geheimnis einweihte, glaubte ich ihm nicht. Ich war sicher, er hatte, wie so oft, etwas aufgeschnappt und falsch verstanden. Er grinste. Er war sich seiner Sache sicher. (....)

Schalansky, Judith (2018). Verzeichnis einiger Verluste 
Berlin: Suhrkamp (aus: Das Schloss der von Behr. S. 138-139)

Für sich sein

Die Fackelkolben waren höher als Kezia; die japanischen Sonnenblumen bildeten einen kleinen Urwald für sich. Sie setzte sich auf eine der kleinen Buchsbaumhecken. Wenn man den Buchs fest hinunterdrückte, saß man sehr bequem. Aber wie staubig war er innen drin! Kezia bückte sich, um hineinzuschauen, und mußte niesen und sich die Nase reiben. Und dann stand sie plötzlich ganz oben auf dem grasbewachsenen Abhang, der sich wellig zum Obstgarten senkte...

Einen Augenblick musterte sie den Abhang, dann legte sie sich auf den Rücken und rollte quietschend bis in die blühende Obstgartenwiese hinunter. Sie blieb liegen und wartete, daß alles aufhörte, sich zu drehen, und dann beschloß sie, ins Haus zu gehen und das Dienstmädchen um eine leere Zündholzschachtel zu bitten. Sie wollte ihre Großmutter überraschen. Zuerst würde sie ein grünes Blatt mit einem großen Veilchen hineinlegen, dann vielleicht zwei sehr kleine weiße Federnelken rechts und links vom Veilchen, und zuletzt würde sie Lavendelblütchen darüberstreuen, aber so, daß die Blumen nicht zugedeckt wurden.
Sie erfand häufig solche Überraschungen für die Großmutter, und immer wurden sie sehr bewundert.

Mansfield, Katherine (1980). Ein Mädchen aus Neuseeland. Erzählungen. 
Frankfurt/M.: Büchergilde Gutenberg (orig. Prélude, 1916. Aus dem Englischen von Elisabeth Schnack) (S. 51 f.)
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