Der Käfer hatte noch etwas vor
Der gewissermaßen buddhistische Reflex, jedes Lebewesen zu achten und nach Möglichkeit auch eine Ameise auf dem Weg nicht achtlos zu zertreten, ist wahrscheinlich viel ausgeprägter, als wir es von uns selber denken. Kinder jedenfalls, wenn sie aus der frühen Phase experimenteller Tierquälerei heraus sind, können geradezu besessen werden von der Furcht, versehentlich am Tod einer Schnecke schuldig zu werden. Jeder Schritt auf dem Rasen wird dann zu einem Hochrisikoschritt. Meine Nichte, als sie etwa sieben oder acht Jahre alt war, warnte mich jedes Mal, wenn ich ein Fenster öffnete oder schloss, dass ich die Marienkäfer verletzen könnte, die dort überwinterten. Ich sollte auch keine Spinnennetze einfach wegkehren, ohne mich zu vergewissern, ob die Spinne nicht gerade schläft. „Ach, das macht ihr gar nichts“, pflegte ich zu sagen. „Macht ihr doch was“, pflegte meine Nichte zu sagen. „Und wenn der Besen so hart ist, gehen die Beine ab.“ Mein Hinweis, dass Spinnen eher einen Überschuss an Beinen haben, wurde zwar nicht als so herzlos empfunden, wie ich ihn gemeint hatte, aber doch unnachgiebig gekontert. „Spinnen haben alle ihre Beine lieb.“
Und in der Tat. Warum sollte unser dumpfes Herumfuhrwerken im Haushalt ein Tier zum Invaliden machen? Und mehr noch: Warum sollten wir ihm auf seinem Lebensweg in die Quere kommen? Nur weil sein Weg zufällig den unseren kreuzt? Nach dem Motto: Pech gehabt? Ein anderes Kind, als es sah, wie ich einen Käfer kurzerhand, wenn auch vorsichtig, vom Tisch entfernte und aus dem Fenster warf, sagte vorwurfsvoll: „Der Käfer hatte doch noch etwas vor.“ (....)
Jessen, Jens (2017). Jessens Tierleben. In: DIE ZEIT Nr. 5/2017, 26.01.2017