Der Käfer hatte noch etwas vor

Der gewissermaßen buddhistische Reflex, jedes Lebewesen zu achten und nach Möglichkeit auch eine Ameise auf dem Weg nicht achtlos zu zertreten, ist wahrscheinlich viel ausgeprägter, als wir es von uns selber denken. Kinder jedenfalls, wenn sie aus der frühen Phase experimenteller Tierquälerei heraus sind, können geradezu besessen werden von der Furcht, versehentlich am Tod einer Schnecke schuldig zu werden. Jeder Schritt auf dem Rasen wird dann zu einem Hochrisikoschritt. Meine Nichte, als sie etwa sieben oder acht Jahre alt war, warnte mich jedes Mal, wenn ich ein Fenster öffnete oder schloss, dass ich die Marienkäfer verletzen könnte, die dort überwinterten. Ich sollte auch keine Spinnennetze einfach wegkehren, ohne mich zu vergewissern, ob die Spinne nicht gerade schläft. „Ach, das macht ihr gar nichts“, pflegte ich zu sagen. „Macht ihr doch was“, pflegte meine Nichte zu sagen. „Und wenn der Besen so hart ist, gehen die Beine ab.“ Mein Hinweis, dass Spinnen eher einen Überschuss an Beinen haben, wurde zwar nicht als so herzlos empfunden, wie ich ihn gemeint hatte, aber doch unnachgiebig gekontert. „Spinnen haben alle ihre Beine lieb.“

Und in der Tat. Warum sollte unser dumpfes Herumfuhrwerken im Haushalt ein Tier zum Invaliden machen? Und mehr noch: Warum sollten wir ihm auf seinem Lebensweg in die Quere kommen? Nur weil sein Weg zufällig den unseren kreuzt? Nach dem Motto: Pech gehabt? Ein anderes Kind, als es sah, wie ich einen Käfer kurzerhand, wenn auch vorsichtig, vom Tisch entfernte und aus dem Fenster warf, sagte vorwurfsvoll: „Der Käfer hatte doch noch etwas vor.“ (....)

Jessen, Jens (2017). Jessens Tierleben. In: DIE ZEIT Nr. 5/2017, 26.01.2017

Der Weg nach Australien

Löcher hab’ ich gegraben, unendlich tiefe, und je schwieriger es wurde, um so verrückter wurde ich danach, noch tiefer zu graben. Mein Bruder sagte mir: „Tief unten, da schmort des Teufels Großmutter“, aber ich glaubte ihm nicht recht. Wenn’s raucht und stinkt, dann ist’s nicht das Fegefeuer, dachte ich, sondern das flüssige Feuer der Erdmitte. Die Erde – ein Feuerball, das gefiel mir!

Und als das Feuer nie kam, so sehr ich auch grub, wurde mir plötzlich klar: Du hast die Erdmitte verpasst! Irgendwann klatscht Meerwasser hinein, und du siehst Australien. Um meinem Glauben etwas nachzuhelfen, streute ich heimlich Kochsalz in die trübe Pfütze, die sich auf dem Grund gebildet hatte. Als wir später in der Schule Australien durchnahmen, wollte ich davon nichts mehr wissen. Erst recht nicht, als der Lehrer zu berichten wußte, es gebe dort Tausende von wilden Kaninchen, die die Erde durchlöcherten. Ich kriegte eine stille Wut auf diesen letzten aller Kontinente – diese elenden Grabsch-Hasen, die hätten mir doch damals ein wenig entgegenkommen können!

„Erinnerungen an Spiele von früher“, aufgezeichnet von Dorothe Frutiger. 
In: Oberholzer, Alex und Lässer, Lore (1991). Gärten für Kinder. Stuttgart: Ulmer (S. 15)

Der Zauber der Dinge

In der Kindheit bilden sich besondere, intime Beziehungen zu den Dingen aus. In der Kindheit unterhalten sich die Dinge. Alle möglichen Dinge, bis hin zum Muster der Tapeten, Teppiche, Sparbüchsen, haben ihre eigene Physiognomie, ihre eigenen Sitten ... An viele denkt man ein ganzes Leben lang, sie haben unsere Geheimnisse aufbewahrt, wir haben mit ihnen gesprochen. (....) dem aufmerksamen Auge erzählen sie viel über uns, unsere Geschmäcker, Gewohnheiten und unsere Zeit. Sie wissen über uns mehr als wir über sie, und mehr als wir denken.

Granin, Daniil (oJ). Leningrader Katalog 
Zitiert von Karl Schlögel, in: Lettre International Nr. 118, S. 70
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